Sag mal – was macht eigentlich …
Sag mal, Gebre Mezgebe von der Praxis für Physiotherapie …
Sag mal, Gebre Mezgebe von der Praxis für Physiotherapie…
Er lacht oft, und wenn er lacht, dann lacht er herzhaft. Wenn er spricht, dann nicht nur mit Worten – dann ist sein ganzer Körper in Bewegung. Er presst die Fingerkuppen aufeinander, er schiebt seine Füße unruhig unter dem Tisch hin und her, er lehnt sich gedankenvoll zurück gegen die Stuhllehne, immer wieder wandern seine Hände über die Brust, den Bauch, über die Unterarme. Mit Worten und mit Gesten – ein Mann spricht über sein Leben, ein Leben, das so facettenreich und so abenteuerlich verlaufen ist, dass es Stoff für ein spannendes Buch oder einen Film sein könnte. Titel: „Ich habe überlebt.“
Gebre Mezgebe ist dieser Mann, im zweiten Stock des Stadtzentrum Schenefeld führt er die Praxis für Physiotherapie. Er selbst ist Masseur und Physiotherapeut – das Leistungsangebot von ihm und seinen fünf Mitarbeitern reicht von allgemeiner Krankengymnastik bis zur sogenannten Hot Stone Massage, von manueller Lymphdrainage bis zu Eis-und Fangopackungen, von Bewegungsübungen bis hin zum Kinesio Taping und zur Fußreflexmassage. Seit 30 Jahren betreibt Gebre Mezgebe im Staddi, wie das Stadtzentrum von vielen liebevoll genannt wird, seine Praxis, seit 30 Jahren nimmt er Menschen die Schmerzen, bringt sie wieder in Balance. „Sie haben heilende Hände,“ sagen viele, die zu ihm kommen und ihn weiterempfehlen, und der Therapeut bestätigt (natürlich mit einem Lächeln) und einem stolzen Selbstbewusstsein: „Die Leute haben recht – meine Hände sind wirklich heilende Hände.“
Sag mal, Gebre Mezgebe, Sie sprechen ziemlich gut Deutsch…aber Sie sind nicht in Deutschland geboren. Oder?
Mezgebe, ein kleiner, drahtiger Kerl mit bronzefarbener Haut, antwortet schnell: „Stimmt, ich bin in Äthiopien geboren. 1980 bin ich nach Deutschland gekommen. Als ich an einem eiskalten Februartag in Frankfurt aus dem Flugzeug stieg, besaß ich nur das dünne Hemdchen, das ich am Leib trug, ich hatte kein Geld, ich sprach kein Wort Deutsch. Ich hatte noch jede Menge Granatsplitter in meinem Körper, die mich piekten und quälten, ja, und ich war blind. So blind, dass ich nicht einmal hell von dunkel unterscheiden konnte…“
Gebre Mezgebe guckt in die erstaunten, verblüfften Augen seines Interviewers. Er wartet auf die nächste Frage…
Sag mal, Gebre Mezgebe, was war passiert?
Und dann erklärt dieser sympathische Mann aus dem 103 Millionen-Menschen-Land Äthiopien, dem Ursprungsland des Kaffees am Horn von Afrika, die Dramatik seiner Vergangenheit. Gebre Mezgebe war Freiheitskämpfer, er gehörte zu jenen, die das Militärregime, das Kaiser Haile Selassie in einem blutigen Militärputsch gestürzt hatte, bekämpfte. Der Bürgerkrieg begann 1974, er endete 1991.
„Es war 1979, als ich verwundet wurde“ sagt Gebre Mezgebe, „ich war damals 23 Jahre jung. Ich sah die Handgranate, wie sie vom Himmel fiel und direkt vor meinen Füßen landete. Ich wollte sie noch schnell mit dem Fuß wegschieben, als sie explodierte. Die Splitter drangen tief in meine Lunge, in die Niere, in fast alle inneren Organe auf der rechten Körperseite ein. Und mein Augenlicht war weg…ich stand im wahrsten Sinne des Wortes von einer Sekunde auf die andere im Dunkeln.“
Im Sudan, dem Nachbarland Äthiopiens, sollte es Ärzte geben, die die Splitter aus dem zerfetzten Körper herausoperieren und Gebre Mezgebe das Augenlicht wieder geben könnten. Mezgebes Hoffnung, den Kampf gegen die Unterdrückung zumindest als gesunder Mensch zu überstehen, erfüllte sich im Sudan nicht.
Ein Leben in Blindheit?
Aber da gab es einen anderen Hoffnungsschimmer, der mit der Hilfe von gut vernetzten Menschen am Horizont sichtbar wurde – und der hieß Deutschland.
Sag mal, Gebre Mezgebe, wer hat Ihnen in Deutschland geholfen?
Der Mann aus der Region, die auf 3000 Jahre ununterbrochener Geschichte zurückblicken kann, kommt schnell und voller Leidenschaft: „Der deutsche Steuerzahler und der damalige Kanzler Helmut Schmidt haben es ermöglicht, dass ich überhaupt nach Deutschland und in ein Krankenhaus kommen durfte. Aber ein Mann, dem ich ganz besonders viel verdanke, ist ein Augenarzt aus Frankfurt. Drei Operationen hat er an mir vorgenommen, und tatsächlich konnte ich nach jedem Eingriff ein bisschen besser sehen. Ich erinnere mich noch genau, was ich nach der ersten Operation als erstes gesehen habe, nachdem ‚mein‘ Doktor die Mullbinde von den Augen genommen hatte – die weiße Hand meines Augen-Retters! Und ich sah die Tränen, die der Doktor in seinen Augen hatte…“
Sag mal, Gebre Mezgebe, Sie haben einen dramatischen Weg hinter sich, der Sie nach Deutschland geführt hat…welchen Weg sind Sie dann gegangen, um so ein erfolgreicher Therapeut und Praxis-Unternehmer zu werden? Warum sind Sie überhaupt ein Physioherapeut geworden?
„Also,“ hebt der gebürtige Äthiopier mit dem mittlerweile deutschen Pass seine Stimme, „ich wollte immer helfen. Schon als Kind, auch als Jugendlicher. Im Krieg, als ich so viel Elend sah, habe ich manches Mal gedacht, moderne Physiotherapie könne Schmerzen lindern. Als ich die Chance zu so einer Ausbildung bekam, habe ich sofort zugegriffen.“
Hatte das verminderte Sehen auch einen Einfluss auf diese Berufsentscheidung?
Zustimmend nickt Gebre Mezgebe, „das ist tatsächlich so. Mehr und mehr wurden meine Finger meine Augen, ich speichere Menschen nicht mit den Augen, ich speichere ihre Stimme, ihren Geruch, und ich speichere ihren Körper. Insofern war es für mich richtig, meine Hände einzusetzen. Die Hände sind mein Kapital, und für viele meiner Patienten sind sie ein Segen…“
Das klingt beeindruckend, Gebre Mezgebe – heißt das, dass Sie – obwohl sie einen Teil Ihres Augenlichtes wieder zurück haben – die Menschen in Ihrer Praxis besser ertasten, erfühlen als sehen können…
Der Therapeut atmet tief durch, wie ferngesteuert nimmt er seine Brille von den Augen, schaut seinem Gegenüber direkt in die Augen und erklärt: „Wenn in fünf Behandlungskabinen fünf Menschen liegen, kann ich mit meinen Fingern ertasten, wer sie sind. Weil meine Augen nicht mehr perfekt funktionieren, haben andere Sinnesorgane mehr und mehr deren Funktion übernommen. Die Fähigkeit des Erkennens mit Hilfe meiner Finger hat sich entwickelt und weiter gesteigert. So kam es ja damals auch zu meiner Praxis, die ich hier im Stadtzentrum im Oktober 1992 eröffnet habe…“
Das müssen Sie genauer erklären, bitte…
„Nach meiner Ausbildung habe ich in Hamburg gelebt und in der Woche in Wyk auf Föhr gearbeitet. Viele meiner Patienten, die ich auf der Nordseeinsel während ihres Urlaubs therapiert habe, durfte ich dann in Hamburg am Wochenende weiter behandeln. Und von ihnen kam die Idee: ‚Gebre, mach’ Dich selbständig. Du hast wunderbare Hände…’ Und einer von ihnen sagte: ‚Eine Praxis im neuen tollen Stadtzentrum Schenefeld…das wäre das Richtige für Dich.“ Pause, ein Lächeln, dann: „Tja, und seitdem bin ich hier. Und ich bin glücklich hier.“
Kassen-und Privatpatienten werden von Gebre Mezgebe und seinem Team behandelt.
Sag mal, Gebre Mezgebe, kommen eigentlich mehr Frauen oder mehr Männer zur Massage und zur Physiotherapie.
Kein langes Überlegen. „Mehr Frauen, eindeutig…“
Warum?
„Die Männer bleiben und leiden zu Hause. Sie gehen nicht so gern zum Arzt. Frauen wollen nicht leiden – und deshalb gehen sie auch schneller und überzeugter in die Therapie.“
Sag mal, wir haben mit Patienten gesprochen – es heißt, Sie seien ein strenger Therapeut…bei Ihnen würde es auch schon mal weh tun…
„Das stimmt,“ bestätigt Gebre Mezgebe, „erfolgreiche Massage kann weh tun, manchmal muss sie sogar weh tun. Streicheln hilft nicht…ich muss mit meinen Fingerkuppen in die Tiefe der Muskulatur, um sie anzuregen.“
Kommen die Menschen dann wieder, obwohl es weh getan hat?
„Natürlich, der Therapieschmerz gehört zur Behandlung. Ich helfe den Leuten schließlich, ich befreie sie von ihren Qualen. Das wissen sie…ich kann Ihnen mehrere Leute vorstellen, die weinend und voller Qualen zu uns in die Praxis gekommen sind…und irgendwann lachend, und schmerzbefreit und aufrecht wieder gegangen sind.“
Was bedeutet es Ihnen, Menschen zu helfen?
„Das ist für mich das Allerschönste. Und das Allerwichtigste. Als ich damals nach der ersten Augenoperation etwas sehen konnte, hat sich mein Arzt riesig darüber gefreut – ich glaube, sogar mehr als ich. So geht’s mir auch, wenn ich helfen kann, dass Menschen ein unbeschwertes Leben führen können. Dann gehe ich abends glücklich aus meiner Praxis. Kürzlich war jemand bei mir, der vor Schmerzen eine Woche lang nicht geschlafen hat…nach meiner Behandlung ist er nach Hause gegangen und hat eine Nacht lang tief und fest geschlafen.“
Es heißt, Migränepatienten, die den Arztmarathon hinter sich und viele Schmerztabletten geschluckt haben, wissen Ihre Fähigkeiten besonders zu schätzen…
Gebre Mezgebe: „Das stimmt. Man muss nicht mit Kopfschmerzen leben, und ich helfe, dass das so auch ist.“
Sag mal, Gebre Mezgebe, jede Heilung gilt ja als wundersam und wundervoll…gibt es bei Ihnen auch so etwas wie extrem spektakuläre Erfolge?
Gebre Mezgebe erzählt die Geschichte einer Frau, die er drei Jahre lang behandelt hat: jeden Dienstag und jeden Donnerstag, immer um 12 Uhr. Zu Beginn der Therapie saß die Frau im Rollstuhl, irgendwann tauschte sie den Rollstuhl gegen einen Rollator, eines Tages brauchte sie auch den nicht mehr, dann benötigte sie nur noch den Stock als Gehhilfe…“Mittlerweile,“ so Gebre Mezgebe‚ „braucht sie nicht einmal den mehr.“ Das kritische, skeptische Auge des Interviewers bleibt dem Therapeuten nicht verborgen. Sein Angebot: „Wenn Sie möchten, können Sie die Frau besuchen. Sie wird Ihnen bestätigen, was ich Ihnen gesagt habe.“
Sag mal, Gebre Mezgebe, Sie sind nun 66 Jahre alt, Sie sind als blinder Verwundeter aus einem Bürgerkrieg in Afrika nach Deutschland gekommen, Ihre Zukunft sah nicht gerade rosig aus, aber tatsächlich haben Sie beruflich Karriere gemacht – wie schaut es privat? Dürfen wir das fragen?
„Ja, sehr gern,“ sagt Gebre Mezgebe, „sehr gern sogar. Ich bin ein glücklicher, dankbarer Mensch. Ich habe eine wundervolle Frau und vier tolle Kinder. Meine drei Söhne sind Chemiker, Wirtschaftsingenieur und Volkswirt, und meine Tochter hat sich entschieden, Juristin zu werden.“
Sag mal, Gebre Mezgebe, allerallerletzte Frage…haben Sie wieder Kontakt nach Äthiopien, zu Ihrer Familie?
„Mein Vater ist leider verstorben. Meine Mutter hat fünf lange Jahre geglaubt, ich wäre tot. Fünf Jahre, das sind 60 Monate, 21.900 Tage und Nächte Sorge und Angst um ihren ältesten Sohn. Mittlerweile kann ich meine Mutter wieder besuchen, ich habe ihr ein Haus gebaut, mit Strom, Heizung, Licht und mit fließend Wasser…es steht an einer schönen Straße… ich weiß, sie lebt gut, sie hat ausreichend zu essen und zu trinken – und sie hat Enkelkinder, die sie lieben…nichts wünsche ich ihr mehr.“